Vom Vergissmeinnicht

Zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, wuchsen in der Einsamkeit des Waldes miteinander auf, spielten dort miteinander und gewannen sich außerordentlich lieb. Als sie größer geworden waren, musste der Knabe hinaus aus dem Walde in das freie Land und in die weite Welt. Das Mägdlein gab ihm das Geleite durch die hochstämmigen Buchen, dort, wo die trauernde Viole mit gesenkten Zweigen stand, an dem blühenden Weißdornbusch vorüber, bis hinaus an den Rand des Waldes. Dort stand ein tiefblaues, großäugiges Blümchen, das die beiden noch nicht gesehen hatten; und als sie mit vielem Herzeleid von einander Abschied nahmen, da pflückten sie die kleine Blume und gaben sich das Versprechen, dass, wo immer sie die blauen Blüten fänden, sie stets eine pflücken wollten, zum Zeichen, dass eines des anderen gedenke.

Sie versprachen es und hielten es.

Viele, viele Jahre vergingen. Er kehrte nicht heim. Sie wurde älter und älter und endlich ein weißhaariges Mütterchen. Es kam wieder einmal der Frühling, und da ging sie hinaus durch die Buchenstämme, an der trauernden Viole vorüber und an dem blühenden Weißdorn, bis an den Waldesrand, wo ihr ein alter, fremder, weißhaariger Mann entgegenkam. Sie kannten einander nicht.

Aber da stand ein blaues Blümchen im hellen Frühlingssonnenschein; und beide bückten sich, um die Blume zu pflücken, die welken Hände begegneten einander, und die beiden Alten hatten sich unter Tränen wieder erkannt und wussten, keines von beiden habe des anderen vergessen.



aus "Oberösterreichische Volks – Sagen"
gesammelt von Kajetan Alois Gloning
V. Romantische Sagen (Sagen verschiedenen Inhaltes)