Oberösterreichische Volks-Sagen
Vorwort
Die Sage berichtet uns von längst untergegangenen Völkern, sie legt sich in kindlicher Weise unverstandene Naturereignisse zurecht, sie verbindet die Überbleibsel des abgelegten Leidentums mit den Lehren des Christentums, sie bevölkert Luft und Erde mit übernatürlichen Wesen, bald gut, bald böse.
Die Sage erzählt uns von Kampf, Empörung, Raub und Plünderung, aber auch vom Heldenmut und Vaterlandsliebe. Die Gründung von Kirchen und Klöstern, von Burgen und Schlössern wird durch die Sage uns überliefert.
Und wenn die Sage auch in sehr vielen Fällen mit den historischen Tatsachen im Widerspruch steht, so ist sie doch das wahrhafte Spiegelbild ihrer Zeit, sie ist die Illustration zur dokumentierten Geschichte.
Leider ist ein großer, vielleicht der größte Teil der Sagen im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen. Die dem Materialismus huldigende Gegenwart ist der Sage nicht hold, und doch soll Sorge getragen werden, dass die letzten Reste von den Anschauungen unserer Vorfahren erhalten bleiben.
Die vorliegende Sammlung der Volkssagen aus Oberösterreich strebt die Erhaltung und Fortpflanzung derselben an.
Mit derselben wurde ich über Beschluss der Bezirks-Lehrer-Konferenz Schärding betraut und ich bin diesem Auftrage mit Lust und Liebe nachgekommen.
Bei der Eigentümlichkeit und Reichhaltigkeit des Stoffes reicht wohl meine Bemühung und die Forschung einiger Jahre nicht hin, und deshalb soll diese Sammlung – weit entfernt von dem Anspruch auf Vollständigkeit – nur einen Baustein bilden zu einer erschöpfenden oberösterreichischen Sagensammlung.
Eine solche besteht eben bisher nicht, nur zerstreut in Topographien, Heimatskunden und Lokalblättern wird einzelner derselben erwähnt. Hiebei tritt der merkwürdige Umstand ein, dass viele dieser aus dem Volke hervorgegangenen Sagen häufig dem Volke nicht mehr bekannt sind, während gerade die wissenschaftlich gebildete Welt sich derselben annimmt.
Die Zahl derer aus dem Volke, welche die Sage treu bewahrt, ist eine sehr geringe, und der kleine Kreis der Wissenden hält aus Misstrauen und Scheu vor Spott und Gelächter häufig jede Mitteilung zurück. Dass diese Sammlung demnach verhältnismäßig ziemlich reichhaltig ausfiel, ist auf die Mithilfe vieler Kollegen zurückzuführen, denen an dieser Stelle öffentlich mein herzlichster Dank abgestattet wird. In Dank gedenke ich auch des im Vorjahr verstorbenen Herrn August Gruber, k. k. Notar in Mauerkirchen, dessen Liebenswürdigkeit mir ein reichliches Material zur Verfügung stellte.
Was die Form betrifft, so wurde selbe absichtlich knapp gehalten; meist kamen auch die Beiträge der Mitarbeiter unverändert zur Verwendung.
Es erübrigt noch die Beantwortung der Frage, ob sich denn eine solche Sammlung der vielen Mühen lohnt, ob sie nicht gerade dazu beiträgt, alten Aberglauben zu erhalten und selbst weiter zu verbreiten?
Die Aufklärung ist soweit vorgeschritten, dass diese letztere Befürchtung grundlos ist, und werden in Schulen,*) sowie in Privatgesprächen die Sagen auf ihren wahren Grund zurückgeführt, so werden sie dem Aberglauben eher steuern, als ihn befördern. Der Nutzen aber, den die Kenntnis der Sagen eines Landes bringt, ist für die Heimatkunde desselben gewiss ein großer. Die Sagen sind ein nicht zu verwerfender Spiegel des Kulturzustandes ihrer Zeit, und da die Sage vielfältig über die Geschichte hinausreicht, oft der einzige Anhaltspunkt.
In dem Bestreben, die Sagen in eine gewisse Übersichtlichkeit zu bringen, war ich lange unschlüssig, ob dieselben topographisch nach den volkstümlichen Landesvierteln, auf die sie sich beziehen, oder nach ihrem Stoff einzuteilen wären. Ich entschied mich für das letztere, weil so ein Gesamtbild der einzelnen religiösen und profanen Kulturzustände geschaffen wird, wenn es auch oft zweifelhaft erscheint, welcher Gattung ein und dieselbe Sage zuzuteilen ist.
Und so möge dieses Büchlein Eingang finden bei dem oberösterreichischen Volke, dem es ja doch sein Entstehen verdankt.
Peuerbach, im März 1884.
Kajetan Alois Gloning.