Die Espe

Als der göttliche Heiland am Kreuze hing, stieg aus seinem Innern der herzzerbrechende Seufzer: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Bald nahte sich ihm der Todesengel in seiner furchtbaren Pracht und schwebte empor zu dem Leidenden. Und als die Seele von dem Leibe geschieden, da erbebten die Bewohner des Himmels, die Felsen barsten, in den Wäldern raste scheu das erschreckte Wild, und alle Bäume, Sträucher und Kräuter bebten in unsäglichem Entsetzen.

Die einzige Espe blieb ruhig und wiegte ihre Krone. „Was zittert und bebet ihr, o Thoren,“ sprach sie, „was entsetzt ihr euch über seine Qualen? Das Pflanzenreich hat keine Sünden, nur die sündhaften Menschen, und er, der auf sich nahm jegliche Schuld, haben sich zu ängstigen und zu zittern.“

Kaum aber hatte die Espe diese frevelnden Worte gesprochen, als über ihrem Gipfel der Todesengel Astaroth mit dem Kelche erschien und ihre Blätter und Zweige mit des Heilands Blut bespritzte.

Ein unaussprechlicher Schreck erfasste den unglücklichen Baum, und ein unbeschreibliches Wehgefühl durchzuckte jede Faser, jedes Blättchen des stolzen Stammes, so dass er bebte und zitterte. Als dann der Friede in die Natur zurückgekehrt war, als sich jeder Baum, jeder Strauch, überhaupt jegliches Wesen erfreute über die Auferstehung des Herrn, da blieb die Espe traurig und zitterte nach wie vor, und so finden wir sie heute noch, ruhelos, bebend und zitternd, selbst wenn kein Lüftchen weht, und so wird sie, ein Ahasver der Pflanzenwelt, erst Ruhe finden am Ende aller Tage.

Und seit dieser Zeit wacht und duftet das Nachtveilchen in der Nacht.



aus "Oberösterreichische Volks – Sagen"
gesammelt von Kajetan Alois Gloning
V. Romantische Sagen (Sagen verschiedenen Inhaltes)