Der Himmelschlüssel

Die Sage erzählt von einem Jüngling, für dessen Wissensdrang die Erde zu wenig bot, er wollte hinauf hoch über die Wolken, hinauf über die Schwelle des Himmels. Er war eingedrungen in alle die geheimen Kräfte der Natur, er war ein Riese an Geistes- und Körperkraft geworden. Aber all das war ihm zu wenig; er lief ruhelos von Berg zu Berg, immer höher dem Himmel entgegen, dessen Pforte er zu öffnen vermochte, sobald nur sein Fuß die Wolken unter sich habe; denn er trug in seiner Hand einen goldenen Schlüssel, den ihm befreundete Geister zustande gebracht.

Und er kam hinauf, wo ein silberner Pfad hinführte zur geheimnisvollen Himmelspforte. Er ging an den Sternen vorüber, die ihm Mut, Beharrlichkeit zusprachen. Als er aber den Schlüssel in das Schloss drücken wollte, kam ein Engel und mahnte: „Alles vergessen! Die grüne Erde, die Heimat, Deine Jugend, alles vergessen, für immer vergessen! Vater, Mutter, Geschwister ...“

Der Jüngling erbebte, er wandte seinen Blick zurück, und taumelnd stürzte er von den silbernen Strahlen der Sterne durch die Wolken hinab zur frühlingsgrünen Erde.

Lange lag er bewusstlos dort wie im tiefen Schlafe. Als er erwachte und um sich sah, war alles vorüber, wie ein Traum verschwunden. Nur den goldenen Schlüssel hielt noch seine Hand gefasst; aber der war in der Nacht zur Blume des Frühlings geworden und wurzelte in der lieben, grünen Erde.



aus "Oberösterreichische Volks – Sagen"
gesammelt von Kajetan Alois Gloning
V. Romantische Sagen (Sagen verschiedenen Inhaltes)