Zum Geleit

Unser schönes Heimatland liegt wie ein aufgeschlagenes Bilderbuch von deutscher Geschichte vor uns, in dem sich besinnlich blättern läßt. Zeigen doch seine Kunst- und Volksdenkmäler den Wanderweg durch die Jahrhunderte deutschen Werdens. Ein Blick aber hinein in die bodenständige Überlieferung ist zugleich ein tiefer Blick in heimisches Wesen. Sang und Sage, Brauchtum und Volksglaube, Volksdichtung und Volkskunst sind Ausdruck alter schollenverwachsener Notgemeinschaft. Und gerade Oberösterreich, das vielgestaltige Land zwischen Alpengletschern und Böhmerwaldeinsamkeit, war und ist reich an bodenständiger Überlieferung, die ihre Eigenart und Urwüchsigkeit hat, dabei aber nie den großen Zusammenhang mit dem gesamten Volkstum verleugnet. Der Schönheit des heimischen Liedes und Spieles, der Sonderart der bodenständigen Volkskunst, wie sie sich etwa im Krippenbrauch zeigt, geht die Forschung längst nach, und die Heimatpflege bemüht sich, allem Volksgut, das auch noch Gegenwartswert hat, Boden zu bereiten.


In den folgenden Blättern sollen die klaren Brünnlein des deutschen Sagenwaldes rauschen. Als Boten der Heimat und Kinder des Volkes können die Sagen für sich selbst reden. Ich will daher von einer breiten Einleitung absehen und nur unterstreichen, was wesentlich für die Gestaltung des Buches geworden ist. Es soll den Reichtum oberösterreichischen Sagengutes zeigen, wie es als Volksbesitz auch in unsere Gegenwart hereinragt. Es ist sicher aufschluß- und ergebnisreich, der Herkunft der Sage in verklungenen Zeiten nachzugehen, die geschichtlichen und kulturkundlichen Zusammenhänge, die durch das Sagengewebe schimmern, zurückzuverfolgen bis in das Dämmerlicht der deutschen Frühgeschichte. Das Oberösterreichische Sagenbuch geht bewußt nicht diesen Weg, will vielmehr dartun, was als wirkliche Volksüberlieferung lebendig geblieben ist und wie das volkskundliche Sagenbild der Gegenwart seine Herkunft aus der Vergangenheit bekundet und dabei dennoch ein Querschnitt durch das Leben bleibt. Unter den Sagenquellen stehen einander drei ganz verschieden zu wertende Gruppen gegenüber: Belege aus alter Zeit, volkstümliche Sagendarstellungen seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts und die noch erfaßbare mündliche Überlieferung. Den frühesten Belegen der Sagengeschichte nachzugehen ist nicht die Aufgabe der Sammlung, die einen Überblick über das Sagengut geben will, das als Erbe oder als neuer Eigenbesitz in unser Jahrhundert hereinragt. Die Sammlung geht daher nur auf die Darstellungen zurück, die mit der lebenden oder zu Vaterszeiten noch lebendigen Überlieferung auf das engste verbunden sind. Den Sagenwegen der Vergangenheit mag einmal ein Ergänzungsband folgen.

Den Grundstock der Sammlung bilden aus dieser Einstellung heraus Sagen, die von einem heimatfrohen Mitarbeiterkreis als lebendes Volksgut festgehalten werden konnten. Sagen, die nur aus gedruckten Berichten übernommen werden konnten, sind durch ein Sternchen gekennzeichnet. Wenn nun von den rund 2600 Sagen, in denen alle wichtigeren Sagenmitteilungen der letzten 100 Jahre zusammengefaßt sind, 1600 des Sternchens nicht bedurften, zeigt dies, daß ein reiches Sagengut seine Kraft in die Gegenwart herein erhielt. Umso erfreulicher wird die Feststellung durch die Erwägung, daß auch von den übrigen Sagen ein Teil noch lebendig ist, aber bei der Sammelarbeit für das Sagenbuch eben nicht aufgezeichnet wurde. Unter den lebenden Sagen findet sich getreues Erbe der Vergangenheit wie die Sagen von der wilden Jagd, aber auch sagenkundlich recht beachtenswerte Beispiele für das Übertragen alten Sagengutes und auch das Herausgestalten neuer Sagenüberlieferung.

Das Zustandekommen des Buches, das den oberösterreichischen Teilausschnitt aus dem deutschen Lebensraum sagenkundlich erfassen will, ist der verständnisvollen Mithilfe vieler Heimatfreunde zu danken, in ganz besonderem Ausmaß hat sich die Lehrerschaft in den Dienst der Sache gestellt. Der Anhang, der die Gewährsleute zu den einzelnen Sagen verzeichnet und in einer Übersicht zuammenfaßt, läßt das Werk als Ergebnis einer großzügigen, selbstlosen Arbeitsgemeinschaft erkennen.

Um das Buch zur inneren Geschlossenheit zu runden, konnten die Sagen nicht in der sprachlichen Zufallsform des einzelnen Einsenders abgedruckt werden, sie sind inhaltsgetreu und sachlich wiedergegeben, um den Sammelkern zur Geltung kommen zu lassen.

Volksüberlieferung ist immer nur in ihrem Zusammenhang mit dem Leben zu verstehen, mag es das deutsche Leben von einst oder jetzt sein. Organisch fügt sie sich zu einem Ganzen zusammen. Ihre Äußerungsformen greifen ineinander über und verschlingen sich bunt. Ob uns der Seelenglaube zum Beispiel als Sage oder als Brauch entgegentritt, ob sich die Weihnachtsfreude im Krippenbau oder im Weihnachtslied kundtut, die volkskundlichen Grundlagen sind dieselben. Die der Forschung und Darstellung unerläßliche Trennung und Einteilung hat daher stets etwas Hartes und Willkürliches an sich, dies mag auch von meiner Anordnung der Sagen gelten. Der Leitgedanke war, durch Gliederung und Reihung in die Geschichte und das Wesen der Sage einzuführen. Zwei Gruppen, die natürlich auch wieder eine ganze Fülle von Grenzfällen und Übergängen zwischen sich haben, scheiden sich schon bei der gröbsten Sichtung: rein geschichtliche Sagen und Sagen, die den Volksglauben zum eigentlichen Inhalt haben, diese bilden die überwiegende Mehrheit. Werden dabei auch manchmal scheinbar äußerliche Dinge erzählt, so ist doch die Auseinandersetzung mit dem Übersinnlichen, die Frage des Seelischen, der wirkliche Sinn. Manche Sage, die bis heute lebendig geblieben ist, wurzelt im Glauben der Vorzeit. Vorstellungen von guten und bösen Geistern, von den Verstorbenen und von der Seele, die in eine Zeit zurückreichen, aus der uns kein schriftliches Denkmal Kunde gibt, haben sich mit erstaunlicher Zähigkeit in ihrere Ursprünglichkeit erhalten, wie die Meinung vom Wandern der Seele in den Trudengeschichten, oder sie haben sich eingegliedert in das neue Weltbild seit dem christlichen Mittelalter, wie ja Gleiches auch das Brauchtum getan hat. In der Einteilung der uralten Sage von der wilden Jagd in Sagen vom Geisterzug und in Sagen vom Teufel als wilder Jäger ist dies angedeutet, noch deutlicher vielleicht aus der inneren Geschichte der Seelen- und der Teufelssagen ersichtlich. Den Sagen, die entweder derartig kultur- und volkskundlich wichtigen Inhalt haben, daß sie als Denkmäler angesprochen werden können, und Sagen, die ihrem Inhalt nach zeitlos sind, wie die Sagen von Städten, die zur Sühne versanken, steht in den Sagen, die ich als wundersame Geschichten zusammenfaßte, Volksgut gegenüber, das seinem Wesen nach erst erstehen konnte, als das Weltbild des Christentums das Gemüt des Volkes erfaßt hatte. Wenn wir den Umfang der einzelnen Gruppen vergleichen, so finden wir, daß sich eine Umschichtung des Sagengutes vollzog, daß die uralten Glaubenssagen und die wundersamen Geschichten von Teufels- und Hexensagen überwuchert wurden. Jedenfalls ergeben die Sagen, die die Überschrift „Volksglaube“ beanspruchen können, wesentlichen Einblick in Denken und Meinen des Volkes. Die schmächtigere Gruppe der rein geschichtlichen Sagen ist nichts weiter als der Nachklang der geschichtlichen Ereignisse. Das halbe Tausend Sagen bildet nicht einen Leitfaden der Heimatgeschichte, sondern ist ein Spiegel, wie unser Volk den Sturm und Sonnenschein, das Große und das Kleine seiner Geschichte selbst erlebt hat, Herzblut ist auch in ihnen, so gut wie in den Glaubenssagen. Und wie erstaunlich lang zittern die Schickale nach. Nicht nur das Grauen der Pest in vergangenen Jahrhunderten, sondern selbst die längst verschollenen Hunneneinfälle und die Opferstätten der Vorzeit sind in dieser ungeschriebenen Geschichtsschreibung zu finden. Auf der anderen Seite spinnt sich aber auch schon ein Sagengewebe um Gestalten der Gegenwart. Die Sage stammt aus Vergangenheit und Leben, schlägt aber auch als Volksdichtung Brücken in das weite, schöne Reich der Volkskunst, und darum klingt die Sammlung in Sagen aus, in denen wie im Abenddämmern Sage und Dichtung ineinander webt.

Mein und meiner Mitarbeiter Wunsch war es, in einem Anhang die ältesten Sagenbelege, die Verbreitung der Sagen, ihre räumliche Verteilung und ihre Beziehung zur übrigen Volkskunde und zur Kunstdichtung zu erörtern, ein genaues Sachverzeichnis beizugeben. Die Druckkosten hätten aber das Werk zu sehr verteuert. Ich mußte mich daher begnügen, in den Anmerkungen die Gewährsleute und die Literatur zu nennen, die für die Gestaltung des Textes in Betracht kam. Wenn aber das Buch die Freunde, die es sich im Dienste der Heimat erhofft, findet, ist gemeinsam mit Dr. Webinger-Graz an einen Ergänzungsband gedacht, zu dem die reiche Sammlung von P. Amand Baumgarten aus dem 19. Jahrhundert und Aufzeichnungen aus der Gegenwart, die nicht mehr eingegliedert werden konnten, schon eine Grundlage bilden. Ein sagenkundlicher Anhang und eingehende Verzeichnisse sollen dann das Werk abschließen. Ich bitte jetzt schon alle Heimatfreunde, die dazu Gelegenheit haben, um Ergänzungen und Richtigstellungen, um die Mitteilung verschollener Quellen und lebender Überlieferung.

Ehe ich das Buch, das mir in seinem Reifen wie ein liebes Eigentum geworden ist, hinauswandern lasse in sein Buchschicksal, möchte ich ihm frohen warmen Dank an meine Mitarbeiter auf den Weg geben für die Heimatliebe und Treue, mit der sie mir geholfen haben, den Sagenschatz der Heimat zu heben.

Die vorliegende Sammlung gibt einen ersten Überblick über das vielgestaltige Sagengut der Heimat. Sie soll aber mehr als bloß heimatkundliche Übersicht sein, sie möchte die Freude an der Volksüberlieferung und das Verständnis für sie wecken, den Weg erschließen zu dem seelischen Reichtum, von dem die Sage nur ein Abglanz ist. Lebt doch in ihr ein köstliches Gut, das unser Volk nicht auf die Dauer entbehren kann, auch wenn es rein verstandesmäßig noch so viel erreichen würde: Auf den Sagen ruht der warme Sonnenglanz der Heimat und in ihnen lebt unseres Volkes Gemüt.


Linz an der Donau, im Advent 1932


Adalbert Depiny